p - probe
UN-LABEL
Es braucht nur ein paar Wendungen vom Remscheider Bahnhof aus und schon wird Asphalt zu Stein. All die kleinen gepflasterten Wege, die hier von den Straßen abgehen, führen in gerade auflebendes Laub. Es wird zu massivem Grün werden, das sich entlang der Wupper windet und in waldige Weiten öffnet. Dass sich hier, zwischen den Wupperhängen, großgläserne Wände auftun kann nur unwirklich erscheinen. Doch genau hier steht die Akademie der Kulturellen Bildung des Bundes und des Landes Nordrhein-Westfalen.
Seit drei Tagen ziehen rege Gespräche durch ihre langen Flure. Sie werden von flitzenden Füßen und rollenden Rädern, von einem Seminarraum zum nächsten getragen. Sind sie dann in einem der Räume angekommen, wird das in ihnen enthaltene Wissen so lange geteilt und aufgedröselt, bis sich Erkenntnisse ergeben. Die Luft dazwischen ist schön und widerspenstig.
Diese drei Tage betten in drei Jahren eines Projektes, dass sich nichts weniger zur Aufgabe macht, als die Theaterlandschaft inklusiv zu öffnen und dabei auch eine neue Ästhetik der Darstellenden Künste zu erschließen. Was die Theater- und Kulturschaffenden dabei untersuchen, nennen sie „Zugangsästhetik“. Dabei werden sie selbst zu sogenannten “access:makern”. Bis ins Jahr 2024 kommen sie dafür mit der Performance-Company “Un-Label” zusammen. Hier in der Remscheider Akademie, inmitten der grünen Idylle, werden erste Schritte gegangen. Und gerollt.
Prothesen, Audiodeskription, Gebärdensprache: Das sind alles Zugangsmittel, die vormals nur für eine bestimmte Rezipierendengruppe verstanden und oft als statische Übersetzung gedacht wurden. In der Zugangsästhetik werden sie jedoch über ihre Funktion hinaus auch als ästhetische und performative Methoden behandelt. Denn nehmen wir es mal genau: Wie übersetzen wir denn Kunst? Deskriptiv oder interpretativ? Verstehend oder fragend? Poetisch? So kann die künstlerische Audiodeskription während einer Performance auch für sehende Personen neue Sichtweisen hervorbringen. Und auch das Gebärden ist nicht nur visuelle Sprache - es bringt auch Geräusche hervor, die zwischen Körper und Raum entstehen und wirken.
Letztlich geht es bei Zugängen um Gerechtigkeit und Empowerment. Die acces:maker nutzen sie aber auch zur Erweiterung des künstlerischen Vokabulars. Der Begriff des Zugangs wird hier also nicht nur weiterentwickelt - er wird vielmehr zum Herzen eines künstlerischen Prozesses.
Was hier Gegenstand künstlerischer Untersuchungen ist, hat seinen Ursprung in menschenrechtlichen Kämpfen. Die Disability Arts wurzeln in den Civil Rights Movements des “Disabled People's Network” in England und Wales. “I’ve been banging on doors for 45 years. Here I feel the doors are open”, beschreibt Julie McNamara, die eben diesen Ursprung in UK mit begleitete. Nun leitet sie ein Seminar in den Räumen der Akademie. Ihr Blick heftet sich an die tiefstehende Sonne. Der Nachmittag wird Abend, als sie Bewegung in den Raum bringt. Sie versammelt alle im Kreis. In der Mitte steht immer, wer den nun folgenden Aussagen entspricht. Aus: “Ich habe mehr als vier Geschwister” wird schnell: “Ich bin schon mal nicht in eine Veranstaltung reingelassen worden” und “Ich habe schon einmal gemobbt“. Ein manches In-die-Mitte-Treten ist ein Bekenntnis - legt Privilegien, Täterschaft oder Betroffenheit offen. Einige Personen stehen oft in der Mitte, manche selten. Die Bewegung ist nicht nur in den Körpern. Auch die Stimmung im Raum wendet sehr schnell. Es wird klar: Es geht hier darum, wie sich Macht im Raum verteilt. Das Verhältnis ist fluide. Aber nicht willkürlich.
In den Tagen hier sind vor allem diese Momente von Erkenntnis wichtig, weniger das Ergebnis. Auf neuen Wegen will man gehen und nicht ankommen. “Es ist immer Zeit, dein Denken neu zu denken”, macht Charlott klar. “Wenn wir hier sitzen und all das Wissen zusammen tragen, sehen wir, wieviel möglich wäre." Charlott begleitet zusammen mit Lisette, der Gründerin von Un-Label, die access:maker.
“Und wie vieles so einfach umzusetzen wäre! Entgegen dem Argument, alles sei zu kompliziert und zu teuer. Mit Offenheit und entsprechender Haltung wäre super viel schon möglich”, fügt sie hinzu. Stattdessen wären Teilnehmende schon auf dem Weg hin behindert worden: Fahrstuhl am Hauptbahnhof? Funktioniert nicht. Rampe? Nicht da.
Dabei würden allerdings auch eigene Grenzen und Begrenztheit auffallen. Denn: Diversität geht über Behinderung hinaus. Im Sinne eines intersektionalen Denkens müssen deshalb auch weitere Diskriminierungsdimensionen eine Rolle spielen. Was ist beispielsweise mit der Arbeiterklasse in einem Theaterbetrieb, der oft von elaborierter Sprache geprägt ist?
Im Seminarraum ist jetzt Pause. Doch alle bleiben in nicht loslassenden Gesprächen verwickelt an ihren Plätzen. In Ton und Gebärden fliegen Worte durch den Raum. “Da war dieses Stück, es hieß ‘Mongos’ - über Menschen mit Down-Syndrom. Das ging gar nicht!”, dringt ein Sprachfetzen durch das Gemurmel hindurch. Dann wird wieder Platz gebraucht. Langsam löst sich die Gruppe voneinander, alles wird zur Seite geräumt. Ein Notizheft bleibt auf einem der Tische zurück. Darauf steht: ‘Die Wirklichkeit nicht in Ruhe lassen!’