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Nenad Čupić
Nenad betritt einen Raum voller erwartungsloser Blicke. Die Teilnehmenden seines Workshops sahen sich schon häufig mit diskriminierenden Vorannahmen konfrontiert. Das hat sie skeptisch gemacht. Von Pädagog:innen werden sie als schwer motivierbar wahrgenommen. Für Nenad sind das gute Voraussetzungen. Wenn einzelne Teilnehmende keine Lust haben, sollte man offen damit umgehen, meint er. „Sagt mir mal auf einer Skala von 0-10: Wie viel Bock habt ihr ganz ehrlich hierauf?“, gibt er in den schläfrigen Raum. Sein Ziel ist es, diejenigen, die am Anfang bei Null (gar kein Bock) waren, zumindest auf eine Eins kommen. Nach einer Stunde ruft ein Teilnehmer, der anfänglich auf der Motivationsskala bei Null war, plötzlich mit einem Lächeln: „Fünf! Ich bin jetzt schon bei Fünf!“
Klassismus, Rassismus und Kolonialismus. Das sind einige der Schwerpunktthemen, die Nenad beschäftigen und durch die er die Teilnehmenden seiner Workshops begleiten will. Der erste Berührungspunkt zwischen Nenad und diesen Problemfeldern war ein Projekt der Entwicklungszusammenarbeit in Uganda. Als ihm die Machtverhältnisse innerhalb der sogenannten Hilfsstrukturen immer deutlicher wurden, begann er zu verstehen, dass Entwicklungszusammenarbeit durchaus problematisch sein kann und angesichts der Kolonialgeschichte eigentlich Wiedergutmachung heißen müsste. Diese und ähnliche Reflexionen zogen in dieser Zeit durch Vereine und Organisationen wie erhellende und zugleich brennende Lichtstrahlen. Dies führte für Nenad auch dazu, eigene Erfahrungen von Klassismus und Rassismus zu reflektieren und anzuerkennen. Er erinnert sich, wie ihm auffiel: „Meine weißen, bildungsbürgerlichen Schulfreunde haben andere Erfahrungen gemacht als ich“.
Wenn mit jedem Menschen, mit jedem paar Augen und jedem Herzen, verschiedene Biographien, verschiedene Erfahrungen einhergehen, inwieweit kann man dann entstehende Gefühle in einer Gruppe auffangen? Und welche Verantwortung hat man, wenn man zu Unterdrückungs- und Diskriminierungsverhältnissen arbeitet?
Eine bewegende Bedeutsamkeit findet sich in der Erkenntnis, dass es sich bei Diskriminierung und Unterdrückung nicht nur um abstrakte, theoretische Themen handelt. Es sind Phänomene, welche die Lebensrealitäten aller Menschen beeinflussen und Systeme, in die alle Menschen eingebunden sind, nicht nur diejenigen, die strukturell davon benachteiligt sind und deswegen als direkt betroffen gelten. “Wenn irgendwo Ungerechtigkeit passiert, ist es, als würde es überall passieren. Der Mensch ist Mensch durch andere Menschen und für andere Menschen”, Nenads Augen glänzen.
Klassismus erklärt Nenad unter anderem als Empathielücke. Der Mangel an Empathie kann sowohl interpersonell als auch strukturell sein. In diesem Erklärungsversuch stehen politische Bildungsarbeit und Aktivismus im Zusammenhang mit etwas, das er mit dem Begriff Liebe benennt. Er spricht dabei von Erich Fromm, Scott Peck und bell hooks. Liebe nicht im Sinne eines romantischen Gefühls zweier Verliebter, sondern im Sinne eines Willens, das (spirituelle) Wachstum eines anderen Menschen zu nähren. Diese Liebe sieht er als Fähigkeit, als Kunstfertigkeit an, die unsere Gesellschaft prägt und noch viel mehr prägen könnte. Das macht Liebe zur Haltung: “Jede:r trägt einen guten Samen in sich, der Entwicklung birgt”. Diesen Samen wahrzunehmen, zu nähren und wachsen zu lassen, ist Ziel seiner Arbeit.
Diese Form von Liebe bekommt deshalb auch Platz in seinen Workshops. Denn als Fertigkeit und Handlung kann sie trainiert werden. Der Versuch, Menschen in seiner Arbeit auch auf einer emotional-innerlichen Ebene zu berühren, denkt psychologische Prozesse mit. Deshalb steht auch seine eigene Gefühlswelt immer wieder auf der Probe. Und manchmal ist auch Verzweiflung und Traurigkeit spürbar - angesichts verletzender, unachtsamer Handlungen von Menschen, mit denen er arbeitet und angesichts der Tatsache, dass seine Arbeit so sehr in die Welt eingebettet ist, in der Menschen auch viel Ungerechtigkeit und Leid erfahren. Sinnorientierte Arbeit webt sich ins Netz des persönliche Lebens ein und ist dadurch an die eigene Person gekoppelt. Das erfordert viel Selbstreflexion, in der Glaubens- und Verhaltensmuster überdacht und verändert werden. Er beschreibt diese persönliche Arbeit als Kompostierung und Umwandlung innerer emotionaler Anteile, die zum Dünger inneren Wachstums werden.
Das lenkt Nenads Fokus immer wieder auf Dankbarkeit, Freude und Hoffnung und löst Pessimismus und Verzweiflung. Dankbarkeit darüber, dass Menschen sich freiwillig mit den teilweise komplexen und aufwühlenden Themen auseinandersetzen. Dankbarkeit für die Offenheit und Freude, die dabei entstehen kann. Es ist eine feingliedrige Arbeit, deren Wirkungsgrad nicht immer auf den ersten Blick zu erfassen ist. Doch der Lern- und Veränderungsprozess ist ein wichtiges Ziel für sich.
Denn dabei vollzieht sich eine Bewusstseinswerdung und höhere Sensibilisierung in den Menschen. Idealerweise eine Bewusstseinswerdung über die Verbundenheit und die Wechselwirkungen in unserem Sein, die Nenad mit der Leitvision der Ubuntu-Philosophie auf den Punkt bringt: „Ich bin, weil wir sind, und weil wir sind, bin ich.“ Die Ubuntu-Philosophie ist eine Lebensphilosophie, die vor allem in Südafrika verbreitet ist. Ihr nach sind wir als Einzelne Teil des Ganzen, wir brauchen einander, wir sind ohne andere Menschen nicht überlebensfähig. Aus dieser Erkenntnis leitet sich eine Verantwortung des Individuums innerhalb seiner Gemeinschaft ab.
Nenad verdeutlicht diese systemische Haltung anhand des Tees, der vor ihm steht, während er spricht. Alle Bestandteile der Teemischung im Beutel, des Wassers und der Tasse tragen zur Wirkung des Tees bei, wobei jeder Bestandteil aus einem anderen Ort, aus anderen Umständen und Zusammenhängen kommt und von diesen geprägt ist. Wir verdanken den Teegenuss unzähligen Menschen, die wir niemals zu Gesicht bekommen.
Diese systemische Haltung liegt seiner Arbeit zu Grunde. An einem Themenbereich hängen die anderen an, sie können nicht separiert betrachtet werden. Das ist der Grund, warum Nenad in Workshops, Beratungen und Coachings jede:n Einzelne:n als wichtig und potentiell erreichbar erachtet. Sie sind alle Teil des Systems. Sie alle, wir alle, tragen zur Wirkung des Ganzen bei.
“grenzenlos vernetzt von a-z” ist Portraitprojekt von der Künstlerin Anika Krbetschek und dem Fotografen Maximilian Gödecke, zusammen mit Grenzen sind relativ e.V..