m - mamonia
über den tellerrand
“Stell dir vor, du hast zwei Freunde eingeladen und du kochst für die beiden. Auf einmal rufen andere Freunde an und wollen sich auch mit dir treffen. Sie sagen: ‘Weißt du was, ich komm vorbei!’. Und dann hast du plötzlich zehn Leute da und alle haben Hunger. Dabei hast du nur für vier gekocht. Es gibt einen Glauben daran, dass es trotzdem immer genug für alle sein wird. Ja, dass am Ende sogar noch etwas übrig bleibt. Das nennt man Baraka. Und das beschreibt für mich, was bei ‘Über den Tellerrand’ passiert.”
Dicker Dampf ummantelt die Tareks Worte, als der Ofen geöffnet wird. Eine Form voll warmer Masse wird auf den großen Tisch gestellt. Eine Wolke Zimt wird in gekonntem Schwung verstreut. Das wohlige Gewürz vergeht ebenfalls in der Wolke. Während der Damp abzieht, fängt er die Gespräche und Gedanken des Raumes ein, nimmt sie mit sich aus den Fenstern hinaus, hoch zum sonnenbehangenen Himmel. Er hinterlässt dabei unbestimmbar dichte Duftschwaden. Dann Haufen von Pistazien, sie fallen weich in Crem Santi. Das Dessert nennt sich Mamonia, الأمونيا , und stammt aus Aleppo. Osman hat das Rezept von seiner Mutter, ihm gehört die geübte Hand, die Zimt und Pistazien zusammentut. Es ist Teil des Ramazan Bayram, auch عيد الفطر oder Zuckerfest genannt, das heute in den Räumen des “Über den Tellerrand” gefeiert wird.
\
In den Community-Events des Projektes kommen Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammen und lernen sich über gemeinsame Aktivitäten wie das Kochen kennen. Das Zuckerfest wird hier heute von Menschen allen Alters mit verschiedensten kulturellen Hintergründen geteilt. „Wir wollten Bayram feiern, aber nicht allein. Wir haben Baklava mitgebracht“, sagt Marlon. Er ist neun Jahre alt. “Bei dem Zuckerfest geht es um Gesellschaft. Das fehlt manchmal in Berlin“, ergänzt seine Mama. „Beim ‘Tellerrand’ dagegen lernt man dazu noch Neues kennen. Nicht nur neue Leute, sondern auch neue Bräuche, neue Dinge.“ Das Kochen wird hier also Anlass zum kulturellen Austausch: Auf den Tellern vereinen sich verschiedenste Kulturen, durch den Raum schwirren unterschiedliche Sprachen. Tarek erinnert sich an eine Veranstaltung, bei der in elf verschiedenen Sprachen gesprochen wurde. Er koordiniert die Community-Events und ist sich sicher: Das Kochen kann eine Brücke bilden, die statt auf Sprache auf den Pfeilern des gemeinsamen Tätigsein fußt. Denn vor allem über solch ein “Tun” und “Handeln” sei das Brückenbauen, das Zusammenkommen, möglich. Der Schritt vom „Wollen“ zum „Tun“ würde dann kleiner, wenn der Rahmen stimmt. Das Projekt ’Über den Tellerrand’ bildet so einen Rahmen.
“Ich bin immer wieder begeistert: ‘Tellerrand’ schafft in sehr kurzer Zeit so enge Verbindungen. Das hat irgendwie auch mit Vertrauen und Augenhöhe zu tun”, sagt Tarek zu Moana. Sie sitzt neben ihm und arbeitet seit zwei Jahren bei ‘Tellerrand’. Wie alle anderen hat sie als Ehrenamtliche angefangen. Sie steigt ein: “Augenhöhe ist immer so ein Schlagwort in der Arbeit um die Soziale Teilhabe. Uns kommt dabei aber die Erkenntnis, dass Augenhöhe vielleicht aber etwas ist, das nie wirklich erreicht werden kann. Auch, weil wir alle unterschiedliche Zugänge zu Dingen wie Aufenthaltstitel oder Arbeit haben. Wir haben das gemerkt, als wir in der Corona-Zeit kleine Events bei Menschen Zuhause gemacht haben. Das war total schön und hat dennoch gezeigt: Nicht jede:r kann ein schönes Zuhause haben. Da zeigen sich Hierarchien. Und es ist voll wichtig, das auch zu sehen.” Es gibt also keinen neutralen Raum. Augenhöhe und Hierarchiefreiheit sind ein Prinzip, eine Richtung. Aber keine Realität. Hier zeigt sich, wie politisch diese Arbeit ist.
Kochen und Essen sind in jede Kultur verwoben und damit auch inhärent an so etwas wie Gemeinschaft verbunden. Gemeinsam Essen kann daher ein Zusammensein schaffen, das andere Erfahrungen als den sozialen Status in den Fokus rückt. „Essen ist Zusammenkommen, Sprechen, Genuss. Es ist Leben in jeglichem Sinne“, sagt Moana dazu. „Und Gemeinschaft bedeutet Leben und Erleben“, bestätigt Nada später. Sie kommt regelmäßig zum Iftar. Zum Fastenbrechen sind auch Leute willkommen, die gar nicht fasten. Nada leitet die Veranstaltung auch manchmal mit ihrer Mutter zusammen an und mit etwas Glück kommt sogar die Oma vorbei. Sie kochen Gerichte aus der Heimat. Mit diesen Rezepten bringen sie auch Erfahrungen und Erzählungen. “Das ist das, was Essen macht. Es erzählt Geschichten”, sagt Tarek. “Auch das ist wichtig für die Soziale Teilhabe“, ergänzt Moana. “In dem Moment, wo Menschen Geschichten teilen, werden sie zu Subjekten. Bei ‘Tellerrand’ geht es oft um Menschen, die wenig Raum haben, um von sich zu erzählen.”
Manchmal beginnt das Geschichten-Erzählen schon mit der Check-In-Frage: “Was hast du als Kind richtig gern zum Frühstück gegessen?” Kurz danach geht großes Gewusel zwischen den Gemüsehaufen und Töpfen um. Manche wissen sofort, was zu tun ist, andere suchen eifrig nach nächsten Schritten. Mit jedem Schnitt und Schnack hebt sich die Stimmung. “Ich sag immer: Wenn die erste Distanz verfliegt, wird die Stimmung lauter.
Ab da geht es im wahrsten Sinne über den Tellerrand hinaus: Die Leute gehen zusammen und ziehen noch weiter“, erzählt Tarek. Sie tragen die Erfahrung des Zusammenkommens dabei mit auf die Straßen. So geht es auch Nada oft. „Ich weiß immer, dass es schön wird, wenn ich herkomme. Es ist wichtig, so einen Ort zu haben, wo man das weiß.“